„Die Filmerzählerin“ – Hernán Rivera Letelier

Die Filmerzählerin – Hernán Rivera Letelier
Zu Hause waren wir fünf Geschwister. Vier Jungs und ich.

Als mein Vater auf die Idee mit dem Wettbewerb kam, war ich zehn Jahre alt und in der dritten Klasse Grundschule. Seine Idee bestand darin, uns nacheinander ins Kino zu schicken und uns dann den Film erzählen zu lassen. Wer ihn am besten erzählte, würde jedes Mal gehen dürfen, wenn ein guter Film lief

Darf ich vorstellen? Maria Margarita, Tochter eines behinderten Minenarbeiters in der chilenischen Atacama-Wüste. Die Mutter hat sich beizeiten aus dem Staub gemacht, um nicht den Rest ihres jungen Lebens fünf Kinder und einen gelähmten Gatten mittels einer spärlichen Invalidenrente durchzubringen.

Da kein Geld vorhanden ist, dem Vater seine tägliche Weinration zuzugestehen und alle Kinder ins Kino zu schicken, kommt dem Vater die Idee, des Wettbewerbs zum Filmerzähler. Obwohl die jüngste in Bunde, setzt sich Maria Margarita durch und versorgt von nun an, zunächst nur die Familie, dann einige Nachbarn und schlussendlich fast das ganze Dorf mit ihren grandiosen Nacherzählungen der Kinofilme.

Das Buch von Autor Hernán Rivera Letelier ist mir durch Zufall auf einem Flohmarkt in die Hand gefallen. Es ist ein kleines, schmales Buch von etwas mehr als 100 Seiten, was dem Roman keinen Abbruch tut. Letelier versetzt sich in eine Zehnjährige, die selbst über ihr Talent überrascht ist und darin ihre Zukunft sieht. Mit viel Empathie, einer großen Portion Humor und Situationskomik, aber auch Wehmut, darf der Leser dem Leben der Hauptdarstellerin in anschaulicher Weise folgen. Dass der Roman ein wenig dahin plätschert hat mich dabei wenig gestört. Es gibt keinen riesigen Spannungsbogen, keine Schenkelklopfer oder poetischen Meisterleistungen und doch ist es ein eher leises, lesenswertes Buch, welchem nicht an Realismus fehlt. Es bringt einem das Sprachgefühl einer anderen Kultur näher – ein Perspektivwechsel.

Wer sich mit dem Autor Letelier befasst, wird schnell erkennen, dass seine Geschichten nicht reiner fiktiver Natur sind, sondern oftmals seinem Leben entnommen sind. Zum Schreiben kam er aus reiner Not. Ein Radiosender hatte einen Wettbewerb zu einem Gedicht ausgerufen, dessen erster Preis ein Essen in einem teuren Restaurant war. Letelier schrieb ein vierseitiges Liebesgedicht, gewann und ist bis dato kein unbekannter in der spanisch schreibenden Literaturgemeinde.

Fazit: Für mich ein überraschendes Kleinod. Eine Geschichte, die nicht mehr als knapp 100 Seiten braucht um einen in kurzer Zeit in eine weit entfernte, andersartige Welt zu entführen. Eigentlich ein schöner Stoff, um daraus einen Film zu machen, der in Programmkinos seine Fans finden würde.

Leseempfehlung? Ja. Mich hat die der Roman zu keinem Zeitpunkt gelangweilt. Er ist eine perfekte kurze Ablenkung vom lärmenden, hektischen Alltag. Letelier bringt Dinge auf den Punkt, bedient sich dabei einer klaren Sprache ohne viele Schnörkel, aber mit leiser Hintergrundmelodie.

Die Filmerzählerin – Hernán Rivera Letelier

Roman


Erschienen am 21. Februar 2011 im Insel Verlag


104 Seiten


Taschenbuch


ISBN-10: 3458358226

ISBN-13: 978-3458358220


Auch in der Kindl-Edition erschienen

ASIN: B007THNCR0

Leseprobe: 
 

„Der Kirmesmörder Jürgen Bartsch“ – Regina Schleheck

Der Kirmesmörder Jürgen Bartsch
In den 1960er Jahren verschwanden immer wieder Jungs in der Region Essen von Kirmesplätzen. Der Täter – Jürgen Bartsch. Er lockte die meist 12-14jährigen Jungs unter Vorwänden in einen alten Stollen, wo er sich an ihnen verging, sie quälte und tötete.


Eine wahre Geschichte, der sich Regina Schleheck in ihrem ersten Roman angenommen hat. Bücher über Jürgen Bartsch uns seine Taten gibt es schon mehr als genug – Tatsachenberichte, Analysen, Betrachtungen. Sich dem Thema aus Warte von eventuell beteiligten Personen, auf rein fiktionaler Ebene anzunehmen, ist neu. In ihrem biografischen Kriminalroman erzählt Regina Schleheck die damaligen Geschehnisse aus dem Blickwinkel mehrerer Beteiligter. Unter anderem kommen  Bartschs Opfer zu Wort. Des Weiteren schlüpft Regina Schleheck in die Erzählrolle von Personen, welche im Grunde keine Position im näheren Umfeld von Jürgen Bartsch einnahmen, sondern die Ereignisse durch die Zeitung oder Hörensagen wahrnahmen.


Die dabei von Regina Schleheck eingenommenen Erzählpositionen sind messerscharf skizziert. Man entwickelt schnell Ablehnung oder auch Verständnis für die einzelnen Personen. Die Gefühlsregungen sind klar und eindringlich beschrieben und im Fall von Jürgen Bartschs Opfern mehr als erschreckend. Wie in ihren sonstigen Kurzgeschichten hat sich Regina Schleheck sprachlich tief auf die entsprechenden Charaktere  eingelassen. Ganz klar sind die verbalen Grenzen von Kindern und derer einer einfachen Arbeiterin getrennt, was den Leser noch nachdrücklicher in die Geschichte eindringen lässt.


Die Hintergründe, warum wurde aus dem Adoptivkind Jürgen Bartsch ein gefährlicher Soziopath und Mörder, werden in diesem Buch natürlich ebenfalls beleuchtet. Die der Autorin zur Verfügung stehenden Quellen, wurden hierbei in meinen Augen sehr gut genutzt. Man entwickelt eine Form von Verständnis für den Täter, was den Leser aber auch in einen persönlichen Interessenskonflikt bringt, spätestens dann, wenn sich Bartsch den Jungs „widmet“.


Fazit: Ein für mich sehr lesenswertes Buch, welches mich oft nachdenklich stimmte und auch erschreckte.

Leseempfehlung: Nichts für sehr zartbesaitete  Leser, aber in jedem Fall ein hoch spannendes Buch mit viel Empathie und Einfühlungsvermögen geschrieben. Also ein hochverdientes JA.



Der Kirmesmörder Jürgen Bartsch – Regina Schleheck


Biografischer Kriminalroman


Erschienen: 03. August 2016 im Gmeiner Verlag


Taschenbuch


244 Seiten


ISBN-10: 3839219396

ISBN-13: 978-3839219393
Leseprobe: 


Rezi „Der David ist dem Goliath sein Tod“ – Torsten Sträter

Der David ist dem Goliath sein Tod – Torsten Sträter
Warum ist der David dem Goliath sein Tod?

Macht ein Praktikum in einem Sonnenstudio Sinn?

Wer verdammt nochmal ist Bumsgut Krombacher?


Herzlich willkommen im Sträter Universum. Einem ausgesprochen unterhaltsamen Platz, wo Kaffee fair behandelt wird und die Pest sich als Süßware enttarnt. Sträters Episoden über Familie und Nachbarschaft, seine jungen Leiden hinsichtlich Sex und Computerspiele sind schon eine Nummer für sich. Wirklichkeit und Fiktion bilden in seinen Geschichten nahtlose Übergänge. Wie einst Ephraim Kishon oder Erma Bombeck balanciert er hierbei auf einem schmalen Grat der Absurdität, welches gepaart mit seinem unverkennbaren Ruhrpott-Hochdeutsch eine geniale Mischung bildet. Der Mann hat bei der Vergabe des Humors einfach mehrfach hier gebrüllt. Ein Humor der sich sowohl im platten aber pointierten Wortwitz niederschlagen kann, als auch hintergründig daher schleicht, wobei er dem Publikum gerne mit einem bubenhaften Schmunzeln die Zeit gibt, den Witz zu verstehen.


„Kommt der Zander raus?“

Das war vielleicht ein wenig leger formuliert, dachte ich.

Drei Sekunden Stille.

Dann hörten wir: „UND OB!“

Den schweren Schritten nach, die da aus dem vierten Stock zu uns runterpolterten, fühlte sich Achims Vater angesprochen. Das war irgendwie nett, wenn man bedachte, dass er Nachtschicht gehabt hatte.

Uwe wurde ziemlich fahl. Aber Rückzug war keine Option. Andy murmelte absolut entspannt, fast meditativ: „Ich glaub, ich piss mir in die Hose.“

Dann war Rübezahl unten angekommen. Er ergriff Uwe am T-Shirt: „WISST IHR KLEINEN ÄRSCHE, WAS NACHTSCHICHT BEDEUTET? WISST IHR, WAS DAS HEISST? SCHLAF?“

Uwe sagte: „Kommt der Achim raus?“

„GLEICH HAT DER ARSCH KIRMES!“

„Der Achim“, hakte Uwe nach, „kommt der raus?“

Eine Stimme von oben: „DER HAT NEUN SEITEN PHYSIK, ACHT BLÖCKE BRUCHRECHNEN UND ´N AUFSATZ AUF!“

„Echt?“

„Jou!“

„Kann der sich bei dem Gebrüll überhaupt konzentrieren?“


Sehen wir es einmal ganz klar. Torsten Sträter ist ein Kind im Körper eines Kerls, mit dem Vokabular irgendwo zwischen Shakespeare und Marvel-Comics und einer Stimme, die Steine zum Schmelzen bringt. Ich bekenne hiermit freimütig – ich bin ein Sträter Groupie.


Fazit: Das war nicht mein letztes Buch von Torsten Sträter.

Leseempfehlung: Unbedingt, denn Lachen bringt Farbe ins Leben.

Warnung: Begegnet Sträter besser nicht, wenn eine Diät macht oder in Erinnerungen an den „Braunen Bär“ schwelgt.


So. Das war es. Schicht im Schacht.



Der David ist dem Goliath sein Tod – Torsten Sträter

Kurzgeschichten


Erschienen am 05. Dezember 2014 im Ullstein Verlag


192 Seiten


Taschenbuch


ISBN-10: 3548375359

ISBN-13: 978-3548375359


Auch in der Kindl-Edition erschienen

ASIN: B005OP2W5W